Stellungnahme der Grünen Fraktion im EU-Parlament zur Corona-Krise

https://sven-giegold.de/corona-krise-europaeische-gruene-antwort

Lie­be Freun­din­nen und Freun­de,
hier ist die gemein­sa­me Ant­wort auf die Coro­na-Kri­se der Par­tei­en in der Euro­päi­schen Grü­nen Par­tei und die Grü­ne Euro­pa­frak­ti­on. Gemein­sam for­dern für mehr Zusam­men­ar­beit in Euro­pa und Soli­da­ri­tät im Ange­sicht der Pan­de­mie, die alle Men­schen glei­cher­ma­ßen betrifft. In deut­li­chen Wor­ten kri­ti­sie­ren wir die natio­na­le Ego­is­men beim Umgang mit der Kri­se und einen Man­gel an Soli­da­ri­tät in Euro­pa. Es ist bit­ter, wie sich etwa inner­halb der Euro­zo­ne die glei­chen Spal­tun­gen wie­der­ho­len wie vor der Kri­se. Statt in der Kri­se zusam­men zu ste­hen, ver­wei­gern Mit­glieds­staa­ten wie Deutsch­land, die Nie­der­lan­de u.a. z.B. eine Absi­che­rung Ita­li­ens und Spa­ni­ens über gemein­sa­me Anlei­hen. Statt die Flücht­lin­ge aus der Enge der Lager von den grie­chi­schen Inseln zu eva­ku­ie­ren, schlie­ßen vie­le Staa­ten die Gren­zen. Die Kri­se darf nicht für den Abbau von Rechts­staat­lich­keit instru­men­ta­li­siert wer­den. Nur gemein­sam und mit ver­ein­ter euro­päi­scher Kraft und Soli­da­ri­tät wer­den wir die Kri­se lösen.
Unten fin­det Ihr die deut­sche Über­set­zung unse­rer Erklä­rung – die ers­te einer euro­päi­schen Par­tei­en­fa­mi­lie. Bit­te ver­brei­tet die­se Erklä­rung der Euro­päi­schen Grü­nen.
Mit ent­schie­de­nen, aber hoff­nungs­vol­len Grü­ßen
Jami­la Schä­fer und Sven Gie­gold
P.S.: Das eng­li­sche Ori­g­ni­al fin­det sich hier:

https://europeangreens.eu/news/european-greens-response-covid-19-crisis

Europäische Grüne Antwort auf die COVID-19-Krise

Sel­ten zuvor hat eine Kri­se die­ser Grö­ßen­ord­nung in so kur­zer Zeit so vie­le Men­schen auf unse­rem Pla­ne­ten getrof­fen. Es ist eine bei­spiel­lo­se Her­aus­for­de­rung für unse­re Gesell­schaf­ten, der wir uns als Mensch­heit gemein­sam stel­len müs­sen. Soli­da­ri­tät und ehr­gei­zi­ge Zusam­men­ar­beit, nicht Natio­na­lis­mus oder Ego­is­mus, wer­den dafür sor­gen, dass wir gestärkt und klü­ger aus die­ser Kri­se her­aus­kom­men. Wir dür­fen nie­man­den zurück­las­sen und müs­sen uns die­ser Kri­se mit offe­nen Her­zen stellen.

Wir, die Euro­päi­schen Grü­nen und die Frak­ti­on der Grünen/EFA im Euro­pa­par­la­ment, tra­gen zusam­men zur poli­ti­schen Reak­ti­on auf die­se Pan­de­mie bei. Gemeinsam,

– emp­fin­den wir tie­fes Mit­ge­fühl mit all jenen, die von dem Virus infi­ziert wur­den und um ihr Leben kämp­fen, sowie mit ihren Fami­li­en und Freun­den. Wir tei­len die Trau­er derer, die gelieb­te Men­schen durch die Krank­heit ver­lo­ren haben.

– bekräf­ti­gen wir unse­re Soli­da­ri­tät und unse­re tie­fe Wert­schät­zung für die­je­ni­gen, die ihr Leben bei der Behand­lung der mit dem Virus Erkrank­ten ris­kie­ren. Der Bei­trag, den sie für unse­re Gesell­schaf­ten leis­ten, kann nicht hoch genug geschätzt wer­den. Ihr Ein­satz darf und wird nicht ver­ges­sen wer­den. Eben­so kön­nen wir nicht genug allen Berufs­tä­ti­gen dan­ken, die dafür sor­gen, dass wesent­li­che Dienst­leis­tun­gen auf­recht­erhal­ten wer­den, und dabei jeden Tag ihre eige­ne Gesund­heit riskieren.

– begrü­ßen wir die Initia­ti­ven und krea­ti­ven Vor­schlä­ge der Men­schen und der orga­ni­sier­ten Zivil­ge­sell­schaft in der gesam­ten EU, die unse­ren Gesell­schaf­ten hel­fen, mit die­ser neu­en täg­li­chen Rea­li­tät zu leben. Wir schät­zen auch die Rol­le der loka­len Regie­run­gen und Ver­wal­tun­gen, die bei der Bewäl­ti­gung die­ser Kri­se vor Ort mitwirken.

– begrü­ßen wir die Zei­chen der Soli­da­ri­tät, die wir zwi­schen Län­dern und Regio­nen erle­ben. Gleich­zei­tig bedau­ern wir zutiefst die man­geln­de Soli­da­ri­tät der EU-Mit­glied­staa­ten wäh­rend die­ser Kri­se. Ins­be­son­de­re Ita­li­en, des­sen Bit­ten nach medi­zi­ni­scher Unter­stüt­zung unbe­ant­wor­tet bleibt, und Spa­ni­en, das eben­falls stark von der aktu­el­len Situa­ti­on betrof­fen ist, blieb not­wen­di­ge und mög­li­che Hil­fe ver­sagt. Wir for­dern alle Mit­glied­staa­ten sowie die EU-Insti­tu­tio­nen auf, sich gemein­sam mit allen euro­päi­schen Staa­ten zu koor­di­nie­ren, um einen mög­li­chen Man­gel an grund­le­gen­den Gütern und Dienst­leis­tun­gen zu ver­mei­den. Dazu müs­sen wir die Pro­duk­ti­on und effi­zi­en­te Nut­zung medi­zi­ni­scher Ver­sor­gungs­gü­ter euro­pä­isch koor­di­nie­ren und den Aus­tausch von Infor­ma­tio­nen und Fach­wis­sen, wirt­schaft­li­che Unter­stüt­zung sowie die Auf­recht­erhal­tung des frei­en Waren­ver­kehrs gewährleisten.

– Der Pri­vat­sek­tor hat her­vor­ra­gen­de Bei­spie­le für Reak­ti­ons­fä­hig­keit und Krea­ti­vi­tät bei der Bewäl­ti­gung der Kri­se gezeigt. Aber auch hier erle­ben wir Ver­su­che, unan­ge­mes­se­ne Vor­tei­le zu erzie­hen und die legi­ti­men Ängs­te der Bevöl­ke­rung aus­zu­nut­zen. Ins­be­son­de­re leh­nen wir alle Ver­su­che der Mas­sen­er­he­bung per­so­nen­be­zo­ge­ner Daten, sei es durch pri­va­te oder öffent­li­che Ein­rich­tun­gen, ent­schie­den ab.

– erken­nen wir an, dass die EU-Regie­run­gen jetzt mit bes­ten Absich­ten han­deln, um den rich­ti­gen Weg zur Über­win­dung der Gesund­heits­kri­se und ihrer sozia­len und wirt­schaft­li­chen Fol­gen zu fin­den. Über­all dort, wo die Grü­nen in der Regie­rung oder in der Oppo­si­ti­on sind, scheu­en wir kei­ne Anstren­gun­gen, um zu den gemein­sa­men Zie­len beizutragen.

– sind wir jedoch sehr beun­ru­higt über die ein­sei­ti­gen Aktio­nen eini­ger EU-Regie­run­gen, ins­be­son­de­re im Hin­blick auf die Not­fall­maß­nah­men. Jede Ein­schrän­kung der Grund- und Men­schen­rech­te muss zur Lösung der Kri­se bei­tra­gen, in ihrer Dau­er begrenzt sein und und ver­hält­nis­mä­ßig sein. Wir sind sehr besorgt über die Ver­su­che eini­ger Regie­run­gen, poli­tisch von der Pan­de­mie zu pro­fi­tie­ren. Die Kri­se darf nicht als Vor­wand für den Abbau demo­kra­ti­scher Kon­troll­me­cha­nis­men und sozia­ler und Arbeit­neh­mer­rech­te miss­braucht wer­den. Regie­run­gen müs­sen wei­ter­hin rechen­schafts­pflich­tig blei­ben, und außer­or­dent­li­che Befug­nis­se dür­fen nur in bes­ter Absicht ange­wandt werden.

– begrü­ßen wir die bereits auf EU-Ebe­ne von der Kom­mis­si­on und der EZB erklär­te Zusa­ge, “alles zu tun, was nötig ist”, um die wirt­schaft­li­chen und sozia­len Fol­gen die­ser Kri­se zu mil­dern. Ins­be­son­de­re begrü­ßen wir dies im Hin­blick auf die Aus­set­zung des Sta­bi­li­täts- und Wachs­tums­pakts sowie des Plans der EZB zur quan­ti­ta­ti­ven Locke­rung. Aber wir glau­ben, dass sie noch wei­ter gehen müs­sen. Ins­be­son­de­re for­dern wir finan­zi­el­le Unter­stüt­zung für die am stärks­ten betrof­fe­nen Mit­glied­staa­ten durch Zuschüs­se und zins­güns­ti­ge Kre­di­te ohne poli­tisch gefähr­li­che Spar­auf­la­gen. Die Regie­run­gen und die EU-Insti­tu­tio­nen soll­ten drin­gend zusam­men­ar­bei­ten und Euro­bonds auf­le­gen, um die erfor­der­li­chen Mit­tel für die Gesund­heits- und Kon­junk­tur­po­li­tik aufzubringen.

– for­dern wir die Mit­glied­staa­ten und die EU auch auf, sich zu koor­di­nie­ren, um star­ke Maß­nah­men zur Ver­hin­de­rung mas­si­ver Arbeits­platz­ver­lus­te und zur Sta­bi­li­sie­rung des Ein­kom­mens der beson­ders gefähr­de­ten Arbeit­neh­mer zu ermög­li­chen. Für die Zeit unmit­tel­bar nach der Kri­se brau­chen wir ein Inves­ti­ti­ons­pa­ket, das sich auf klei­ne und mitt­le­re Unter­neh­men und Ein-Per­so­nen-Betrie­be kon­zen­triert. Es soll­te dazu bei­tra­gen, unse­re Wirt­schaft auf die sozi­al-öko­lo­gi­sche Trans­for­ma­ti­on auszurichten.

– erken­nen wir die glo­ba­le Dimen­si­on die­ser Kri­se und die Soli­da­ri­tät an, die die euro­päi­schen Län­der bereits von vie­len nicht-euro­päi­schen Staa­ten ange­bo­ten bekom­men haben. Genau­so darf die Soli­da­ri­tät der EU nicht an den Gren­zen der EU enden. Die EU muss die not­wen­di­ge huma­ni­tä­re Hil­fe und die bes­ten medi­zi­ni­schen Res­sour­cen bereit­stel­len, ins­be­son­de­re für die Län­der des glo­ba­len Südens. Die EU muss die größt­mög­li­che Zusam­men­ar­beit mit der WHO und ande­ren inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen sicher­stel­len, um eine wirk­sa­me medi­zi­ni­sche Reak­ti­on zu ent­wi­ckeln (For­schungs­zu­sam­men­ar­beit für Impf­stof­fe usw.) und die For­schungs­er­geb­nis­se zu teilen.

Unser gemein­sa­mer Kom­pass bei der Bewäl­ti­gung der Kri­se soll­te von fol­gen­den Ele­men­ten gelei­tet werden:

  1. Wir müs­sen gemein­sam sicher­stel­len, dass nie­mand zurück­ge­las­sen wird, ins­be­son­de­re nicht die­je­ni­gen, die am meis­ten von der Kri­se betrof­fen sind. In kei­ner Wei­se soll­te unser Kri­sen­ma­nage­ment Unge­rech­tig­keit und Aus­gren­zung ver­tie­fen. Wir sind ins­be­son­de­re der Ansicht, dass die Bewäl­ti­gung die­ser Kri­se die EU und ihre Mit­glied­staa­ten sowie ande­re euro­päi­sche Län­der nicht dar­an hin­dern soll­te, schnell und ver­ant­wor­tungs­be­wusst zu han­deln, um die sich ver­schlech­tern­de Situa­ti­on in Flücht­lings­la­gern auf den grie­chi­schen Inseln zu lin­dern. Die Lager auf die­sen Inseln müs­sen eva­ku­iert wer­den, um einen siche­ren Zugang zu Gesund­heits­ver­sor­gung, Qua­ran­tä­ne und ande­ren geeig­ne­ten Maß­nah­men gegen das Coro­na­vi­rus zu gewährleisten.
  2. Eine wirk­sa­me, effi­zi­en­te und dau­er­haf­te Reak­ti­on auf die Kri­se erfor­dert kol­lek­ti­ves Han­deln. Leben schüt­zen heißt, eng­stir­ni­ge natio­na­le oder wirt­schaft­li­che Inter­es­sen hin­ter sich zu las­sen. In die­sem Sin­ne begrü­ßen wir die bis­he­ri­gen Koor­di­nie­rungs­be­mü­hun­gen der EU-Insti­tu­tio­nen, erwar­ten jetzt aber eine grö­ße­re Füh­rungs­rol­le der EU-Institutionen.
  3. Um Ant­wor­ten auf die Kri­se zu fin­den, müs­sen wir über den Tel­ler­rand hin­aus han­deln und den­ken, ins­be­son­de­re im Hin­blick auf die makro­öko­no­mi­sche Poli­tik. Orga­ni­sa­tio­nen, Geset­ze, Regeln und Ver­fah­ren müs­sen so gestal­tet wer­den, dass sie dem Leben die­nen, nicht umgekehrt.
  4. Öffent­li­che, kos­ten­lo­se und gut finan­zier­te Gesund­heits­sys­te­me sind und blei­ben ein Rück­grat unse­rer Wohl­fahrts­staa­ten. Die EU soll­te sich um eine enge­re Zusam­men­ar­beit zwi­schen natio­na­len Gesund­heits­sys­te­men bemü­hen und Mecha­nis­men ent­wi­ckeln, um sie wei­ter zu stär­ken. Wir wol­len die­se Kri­se zum Aus­gangs­punkt für mehr euro­päi­sche Inte­gra­ti­on machen und uns auf ein stär­ke­res, grü­ne­res und sozia­le­res Euro­pa hinbewegen.

Lasst uns hier ganz deut­lich sein: Die Art und Wei­se, wie wir mit die­ser Kri­se umge­hen, und unse­re Fähig­keit, uns zu koor­di­nie­ren und gegen­sei­tig zu unter­stüt­zen, kön­nen ent­we­der das euro­päi­sche Pro­jekt und unse­re Demo­kra­tien, wie wir sie ken­nen, unwie­der­bring­lich schä­di­gen oder umge­kehrt bei­des stärken.

Wir sind davon über­zeugt, dass es nach Über­win­dung die­ser Kri­se weder zu einem nor­ma­len Geschäfts­be­trieb noch zu einem Ali­bi für eine stren­ge Austeri­täts­po­li­tik kom­men darf, wie dies nach der glo­ba­len Finanz­kri­se der Fall war. Wie der Kli­ma­wan­del, der eine drin­gen­de und exis­ten­zi­el­le Her­aus­for­de­rung blei­ben wird, stellt die Pan­de­mie die Art und Wei­se zutiefst in Fra­ge, wie unse­re Gesell­schaf­ten orga­ni­siert sind, wie wir auf die­sem Pla­ne­ten leben und eine Viel­zahl kon­ven­tio­nel­ler Poli­ti­ken. Mehr denn je brau­chen wir gemein­sam einen neu­en Kom­pass. In die­ser Per­spek­ti­ve ver­stärkt die COVID-19-Kri­se die abso­lu­te Not­wen­dig­keit trans­for­ma­ti­ver Initia­ti­ven wie eines muti­gen euro­päi­schen Green Deals und mas­si­ver Inves­ti­tio­nen in hoch­wer­ti­ge öffent­li­che Dienst­leis­tun­gen, vor allem im Gesund­heits­sek­tor. Nur dann wird die­se Kri­se zu gerech­te­ren, nach­hal­ti­ge­ren und demo­kra­ti­sche­ren Gesell­schaf­ten führen.